„Du musst auch mal loslassen“ – diesen Satz hören die Angehörigen von verstorbenen Menschen recht oft. Loslassen, um das eigene Leben neu ausrichten zu können. Das ist Blödsinn. Denn viel tröstlicher als das Loslassen ist das Verbundensein – und das zeigt auch die Trauerforschung.
Continuing Bonding: innerlich mit dem Verstorbenen verbunden bleiben
Viele traditionelle Trauermodelle setzen auf das Loslassen im Trauerprozess: „erfolgreich“ sei demnach Trauerarbeit erst dann, wenn sich der Hinterbliebene emotional vom Verstorbenen losgelöst habe. Nur so könne sich der Hinterbliebene wieder mit neuen Lebenszielen beschäftigen oder neue Beziehungen eingehen.
Für viele Trauernde ist dieser Anspruch des Loslassens wahnsinnig schmerzvoll und fühlt sich so an, als ob die verstorbene Person keinen Platz mehr im Leben des Hinterbliebenen bekommen soll.
Seit Ende der 1980er Jahre wird dieser Ansatz aber in Frage gestellt; denn viele Menschen empfinden es als heilsam, die Beziehung zum Verstorbenen auch über den Tod hinaus beizubehalten. Das hat auch die Trauerforschung bzw. Trauerpsychologie erkannt. Diese innere Verbundenheit aufrechtzuerhalten ist der Fokus des Trauermodells Continuing Bonding.
Es ist ein beziehungsbasiertes Modell. Das bedeutet, es geht um das Wir. Die meisten Erfahrungen, die wir im Alltag machen, sind Wir-Erfahrungen. Wir Menschen sind beziehungsbezogene Menschen, wir leben in Beziehungen mit anderen Menschen – mal mehr oder weniger intensiv.
Identität wächst aus der Beziehung mit anderen
Diese Beziehungen haben eine Auswirkung auf unsere eigene Identität, denn andere Menschen prägen uns und unser Sein. Zurecht fragen Hinterbliebene nach dem Tod eines geliebten Menschen: „Wer bin ich ohne Dich?“. Je intensiver und enger die Beziehung zum Verstorbenen ist, desto wichtiger ist sie für unsere Identität und desto schmerzlicher ist der Verlust.
Wenn ein geliebter Mensch stirbt, dann müssen wir erst lernen, mit dem Verlust umzugehen. Wir müssen lernen, wie wir ohne diesen Menschen weiterleben können. Das ist eine Mammutaufgabe.
Denn mit dem Tod eines geliebten Menschen stirbt auch die gemeinsame Zukunft oder vielmehr die Idee einer gemeinsamen Zukunft mit allen Träumen, Wünschen und Plänen. Je konkreter dieses Zukunftsbild in unserer Vorstellung ist, desto schlimmer ist der Verlust für uns. Unser Leben verändert sich. Die Ohnmacht über diese Veränderung macht uns zu schaffen.
Die Beziehung zu einem anderen Menschen – wenn sie positiv und bedeutsam ist – gibt uns ein Gefühl von Sicherheit. Liebevolle Zuwendung, Zusammengehörigkeit, Nähe – all das lässt uns ruhiger werden und uns sicher fühlen. Genau diese Gefühle sollen beim Continuing Bonding bei der Trauerarbeit helfen, den Verlust zu verarbeiten. Es ist ganz wichtig, dass der Hinterbliebene den Tod der geliebten Person annimmt und eben nicht verdrängt oder gar verleugnet. Nur dann kann sich die innere Beziehung zum Verstorbenen auch über den Tod hinaus entwickeln und tröstlich sein. Der Verstorbene bleibt ein Teil des eigenen Ich – und dieses Gefühl tut uns gut.
Wege, um die Verbindung aufrecht zu erhalten
Die Trauerforschung beschäftigt sich mit der Frage, welche Ausdrucksformen diese Verbindung im Kontext von Continuing Bonding annehmen kann. Wie gelingt das?
- Besuchen Sie gemeinsam mit Familie und Freunden Orte, die Sie die Verbindung zur verstorbenen Person spüren lassen. Das kann eine Parkbank sein, das Lieblingscafé, ein Urlaubsort oder eben auch das Grab.
- Tragen Sie einen Gegenstand bei sich, der Sie an den Verstorbenen erinnert. Das kann ein Schlüsselanhänger sein oder ein kleiner Talisman, aber auch ein Foto im Geldbeutel oder ein Schmuckstück, das Sie tragen. Bei Gegenständen stehen die Hinterbliebenen oft vor der Herausforderung: was darf oder soll ich weggeben und was behalte ich? Viele Angehörige entscheiden sich auch bewusst gegen einen Gegenstand, da es ihnen (noch) zu schwer fällt, die Wirklichkeit des Verlusts anzunehmen
- Schauen Sie sich Fotos an, sprechen Sie mit Freunden und Familie über den Verstorbenen, besuchen Sie gemeinsam das Grab. All das trägt dazu bei, dass die verstorbene Person in das Hier und Jetzt integriert wird – auch wenn er oder sie nicht mehr physisch da ist, die innere Verbindung wird auf diese Weise gestärkt. Dem Hinterbliebenen tut es gut zu wissen, dass andere Menschen an die geliebte Person denken und die Erinnerung aufrechterhalten.
- Erzählen! Erzählen Sie von gemeinsamen Erlebnissen, erzählen Sie die Geschichte des Verstorbenen, erzählen Sie, worüber Sie zusammen gelacht, diskutiert oder geplaudert haben. Im Erzählen findet Gedenken statt. “Gedenken bedeutet, Nein zu sagen zum Vergessen. Wer gedenkt, lebt nicht nur in einer Welt und nicht nur in einer Zeit. Gedenken bewirkt, dass die Vergangenheit den Lauf der Zukunft formen kann. Wer gedenkt, der anerkennt, dass die Zeit Spuren hinterlässt und alle Ereignisse miteinander zusammenhängen“, zitiert Diana Staudacher in ihrem Aufsatz den Schriftsteller Elie Wiesel.
Dieses Gedenken geht weit über das bloße Erinnern hinaus, denn es geht beim Gedenken um genau dieses Wir: alles, was die Erinnerung an einen Mensch ausmacht, hat mit uns selbst zu tun – es geht also um uns selbst: wer wir sind, was wir erlebt, durchlebt haben und wie der verstorbene Mensch uns in unserem Sein geprägt hat. Das Gedenken ist ein tiefer Ausdruck von Liebe: wir wollen den Verstorbenen nicht aufgeben, auch wenn er nicht mehr vor uns steht. Wir bleiben ihm oder ihr treu – auch über den Tod hinaus.
Und darum geht es mir auch in meinen Trauerreden. Meine Trauerfeiern stehen ganz im Zeichen des Lebens. Ich will nicht nur reden, sondern erzählen, damit Sie gedenken und eine tiefe Verbundenheit spüren. Damit Sie Kraft finden und Sicherheit empfinden.
Quellen: In diesem Blogbeitrag habe ich mich auf den Aufsatz „Continuing Bonds“ – ein beziehungsbasiertes Trauer-Modell von Dr. Diana Staudacher bezogen, erschienen im Magazin pflegen Palliativ Trauern Ausgabe Nr. 54/2022 sowie auf den Aufsatz von Heidi Müller und Hildegard Willmann: Über den Tod hinaus Vom Lösen und Fortsetzen der Bindung zum Verstorbenen
vOR knapp drei Wochen ist mein kerngesund scheinender Mann mit 66 Jahren am plötzlichen Herztod gestorben und alles hat sich innerhalb einer Sekunde verändert. Als wir uns vor 34 Jahren kennenlernten, hatten wir beide nach 2 Tagen das Gefühl, dass der wir den anderen bereits ein leben lang kannten, weder er noch ich hatten je ein solches gefühl. ich hatte mein leben um ihn herum gebaut, wir hatten keine kinder, kaum familie; gestern abend hatte ich für einige minuten das gefühl, dass ich den verstand verloren habe, bis ich wieder spürte, was ich tat. Freundinnen und Freunde sindder einzige halt. Er war alles für mich, und wir hatten noch so viel vor. Gestern hörte ich von einem gemeinsamen Freund, dass er immer vor mir hatte gehen wollen, weil er den schmerz nicht hätte ertragen können; jetzt habe ich den schmerz, den ich nicht ertrage. manchmal habe ich das gefühl, dass ich in heisses öl getaucht werde. nie hätte jemand mit seinem tod gerechnet, so fit wie er war. Ich will ihn wiederhaben, auch wenn ich weiss, dass das nicht möglich ist.
Es tut mir so sehr leid, dass Sie Ihren Mann verloren haben. Ich kann mir nur im Ansatz vorstellen, wie groß Ihr Schmerz sein muss. Sie erleben gerade eine Komplettveränderung Ihres Lebens – ohne, dass Sie das wollten. Sich in diesem neuen ungewollten Leben zurechtzufinden ist ohne Frage sehr schwer und sehr anstrengend. Ich kann Sie nur ermutigen, sich in Ihrer Trauer begleiten zu lassen – durch ehrenamtliche Trauerbegleitung in Einzelbegleitung oder in einer Trauergruppe. Vielleicht hilft es Ihnen zu spüren, dass andere Trauernde mit ähnlichen Herausforderungen, Gedanken und Gefühlen konfrontiert sind wie Sie. Vielleicht hilft es Ihnen auch zu spüren, dass Sie nicht alleine sind. Auch das kann Kraft geben, durchzuhalten und sich mit dem neuen Leben, der Trauer und dem Schmerz zurechtzufinden. Ich wünsche Ihnen von Herzen alles Gute